Der zentrale Abschlussgottesdienst der dritten Helmstedter Hospiztage fand heute in unserer Kirche statt. Eine Annäherung an Sterben, Tod und Trauer war das Ziel des Projektes, dessen Umsetzung von großer Offenheit und Würde gekennzeichnet war. Der Gottesdienst war sehr gut besucht und entfaltete eine eigene Spiritualität, zu der wesentlich die Predigt von Pfarrer Karl-Peter Schrapel beitrug. Nachdem mehrere Anfragen nach dem Pedigttext bei uns eingegangen sind, veröffentlichen wir an dieser Stelle den Text mit der Genehmigung von Herrn Schrapel.

Der Predigttext: Evangelium nach der Einheitsübersetzung:Joh. 12,20-29

Die letzte öffentliche Rede Jesu – Die Stunde der Entscheidung:

Auch einige Griechen waren in Jerusalem anwesend – sie gehörten zu den Pilgern, die beim Fest Gott anbeten wollten. Sie traten an Philippus heran, der aus Betsaida in Galiläa stammte, und sagten zu ihm: Herr, wir möchten Jesus sehen. Philippus ging und sagte es Andreas; Andreas und Philippus gingen und sagten es Jesus. Jesus aber antwortete ihnen: Die Stunde ist gekommen, dass der Menschensohn verherrlicht wird. Amen, amen, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht. Wer an seinem Leben hängt, verliert es; wer aber sein Leben in dieser Welt gering achtet, wird es bewahren bis ins ewige Leben. Wenn einer mir dienen will, folge er mir nach; und wo ich bin, dort wird auch mein Diener sein. Wenn einer mir dient, wird der Vater ihn ehren. Jetzt ist meine Seele erschüttert. Was soll ich sagen: Vater, rette mich aus dieser Stunde? Aber deshalb bin ich in diese Stunde gekommen. Vater, verherrliche deinen Namen! Da kam eine Stimme vom Himmel: Ich habe ihn schon verherrlicht und werde ihn wieder verherrlichen.

Die Gnade Jesu Christi, unseres Retters und Bruders und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft im Heiligen Geiste sei mit uns allen!

Was mich am stärksten bewegt am Predigttext

Liebe Gemeinde,

gerne möchte ich ihnen davon erzählen, was mich an dem gerade gehörten Predigttext ganz besonders bewegt. Dazu muss ich ein wenig ausholen und auf ein Thema zu sprechen kommen, das mich in meinem Leben immer wieder beschäftigt hat und das gewiss viele von Ihnen, die Sie heute hier im Gottesdienst beisammen sind, aus gegebenen Anlass ebenso bewegt: Es ist die Beschäftigung mit der Frage:

Was ist mit mir, wenn ich gestorben bin? Ist dann alles aus? – Wenn’s so wäre, was ist das dann für eine Verschwendung von Leben: Geboren werden um zu sterben?! Ziel und finaler Höhepunkt meines Lebens: der Tod?

Da hat sich bei mir schon immer – solange ich mich zurückerinnern kann – alles gegen gesträubt, es so zu sehen!

Mir hat das Johannes-Evangelium – und gerade diese zwei miteinander verbundenen Bibelstellen: die Geschichte von der Auferweckung des Lazarus und das Bibelwort vom Weizenkorn, das in die Erde fällt, dort als einzelnes Korn aufhört zu existieren, um dann aber als neue daraus entstehende Ähre hundertfach Frucht zu tragen, sehr geholfen, eine für mich stimmige Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Sterbens – und damit auch auf den Sinn des Lebens – zu bekommen. Und dabei fasziniert mich ganz besonders, wie sich der Jesus des Johannes-Evangelium. hier ganz provozierend gegen alle uns innewohnenden Selbsterhaltungsinstinkte wendet, indem er postuliert: Nicht wer sich krampfhaft an dieses Leben klammert kann mit der Erfahrung „ewigem Lebens“ rechnen, sondern nur der, der auch bereit dazu ist, es loszulassen, oder wie Luther den griechischen Urtext noch drastischer übersetzt: „Wer sein Leben auf dieser Welt hasst, der wird’s erhalten zum ewigem Leben.“ Das ist knallhart! Und unglaublich leicht, missverstehen: Ist das Aufforderung zum Suizid? Ist das die lebensfeindliche, freudlose, hässliche Fratze des Christentums, wie sie Philosophen wie Nietzsche zu erkennen meinten?

Nein! Genau darum geht es eben nicht, glaube ich! Jesus geht es mit dieser provokatorischen Aussage um etwas ganz anderes: Es geht um die Entlarvung der tödlichen Einsamkeit, die einem ein solches krampfhaftes Festhalten am Eigenen schon zu Lebzeiten beschert. Denn wer immer nur auf sich selbst schauen muss, wer in seinem Leben alles ausschließlich darauf ausrichtet, seine eigene Existenz abzusichern, der begibt sich damit in eine selbst gewählte Einsamkeit, die ihn schon zu Lebzeiten tot sein lässt: Wer nur an sich selbst denkt, erleidet den sozialen Tod. Nur wer bereit ist, sich hinzugeben – und „Hingabe“ bedeutet nichts anderes als zu lieben – kann sich selbst wirklich als lebendig erleben!

Und, das frage ich nun ganz besonders Sie, liebe Hinterbliebene: Ist die Erfahrung, sein eigenes Leben zu hassen, am liebsten nun selbst auch tot zu sein, gerade deshalb, weil der Mensch, den man so sehr geliebt hat, nun von einem gegangen ist, eine in der Trauer so unbekannte Empfindung?

Ich glaube, gerade diese schmerzhafte Erfahrung gehört doch fast untrennbar zu einer von Liebe geprägten Beziehung mit dazu: Wenn mir das Gegenüber meiner Liebe, wenn mir mein Schatz verloren gegangen ist und ich noch nicht weiß, wo ich ihn wiederfinden kann, dann werde ich todtraurig. Dann wird meine Sehnsucht riesengroß, wieder vereint zu sein mit meinem verlorenen Schatz, dort zu sein, wo er hin verlorenging. Dann erscheint mir das Leben ohne ihn erst mal völlig entleert.

Zurück zum Predigttext: Was Jesus in unserem Bibeltext den Menschen sagt, die extra gekommen sind, um einen solchen „Wundertäter“ zu erleben, der gerade zuvor einen Freund namens Lazarus auf Bitten seiner zwei Schwestern, Marta und Maria, mit Gottes Hilfe aus dem Tod wieder ins Leben zurückgeholt hat, kommt für diese sicher völlig unerwartet und wird wohl auch große Enttäuschung ausgelöst haben: Dieser „Lebensretter“ lässt klar durchblicken: Seine Stunde ist jetzt schon gekommen. Da gibt es keine wunderbare gemeinsame Zukunft mehr, so wie sich das viele damals vielleicht für sich erhofft hatten: Da ist jetzt einer, der kann Tote wieder lebendig machen. Also stelle ich mich gut mit ihm, so wie sein Freund Lazarus und dessen Schwestern und dann habe ich die beste Lebensversicherung für mich, die man sich vorstellen kann: Der macht mich einfach wieder lebendig, wenn ich mal sterben muss!

Diese Hoffnung wird von Jesus enttäuscht: Die kommende Stunde seiner Verherrlichung wird die Stunde seines Sterbens sein! Und in der Tat, das ist die letzte öffentliche Rede Jesu im Johannes-Evangelium vor seiner Kreuzigung. Und da gibt es etwas, was sicherlich ebenso enttäuschend gewesen sein muss: Dieser Jesus gibt offen zu, dass er Angst hat vor dem was kommt: „Meine Seele ist erschüttert!“, sagt er.

Die Leute werden sich gewiss gefragt haben: „Warum hat der Angst vor dem Sterben, wenn er doch selbst Tote zum Leben erwecken kann?“ Doch wer sich dann nicht schon enttäuscht abgewandt hat, wird noch mitbekommen haben, wie dieser Jesus beispielhaft mit seiner eigenen Angst vor dem Sterben umgeht – und damit am eigenen Beispiel verdeutlicht, was er zuvor mit dem provokatorischen Bildwort von Weizenkorn gemeint hat: Soll er weiter um sein Leben kämpfen und Gott darum bitten, ihn aus dieser schweren Stunde zu retten? Doch dann wird ihm klar:

Nein, es gibt einen anderen Grund, warum er dadurch muss – und „durch“ müssen wir da ja nun alle, durch das Sterben! – und darum kann er dann zu Gott beten: „Vater, verherrliche deinem Namen!“. So wie wir Christen es im Vaterunser von Gott für uns erbitten: „Geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe!“

Und das heißt für mich, gegen allen Zweifel, gegen alle Verständnislosigkeit gegenüber der Tatsache, dass ich sterben muss, weiter daran festzuhalten, dass das wahre, das ewige Leben, dass die „Herrlichkeit Gottes“ schon längst ein unzerstörbarer Teil von mir ist, dass die Kraft Gottes von Anfang an in mir ist, so wie in allem was lebt, und dass diese Kraft niemals verloren gehen kann, auch dann nicht, wenn ich sterbe.

Ich weiß, das ist ein Glaubenssatz. Ein Satz, den man ebenso wenig festhalten kann, wie sein eigenes Leben. Es ist vielmehr ein Geschenk, so wie das Leben selbst. Ein Schatz, den man auch verlieren kann.

Auch das gehört für mich zu den Unsicherheiten des Lebens, die uns nicht erspart bleiben. Und darum ist es m.E. auch so wichtig, dass wir gerade in solchen schweren Krisenzeiten, die meist mit großen Zweifeln und Unsicherheiten verbunden sind, nicht unbegleitet bleiben. Und aus dieser Einsamkeit ruft Jesus die Menschen in dieser Szene heraus: Wer dicht macht, sich abkapselt, dem geht es so wie einem Weizenkorn, dass nicht in den fruchtbaren Boden einer tragenden Gemeinschaft gelegt wird: „Es bleibt allein!“ Wer sich aber hingibt, sich öffnen kann und anderen anvertraut, der darf erleben, wie fruchtbringend das ist.

Und ich gehe mal davon aus, dass viele von Ihnen, die Sie heute hier im Gottesdienst sind, als Hinterbliebene oder auch als Begleitende der Hospizarbeit Helmstedt e.V. aus eigener Erfahrung darum wissen, was ich damit meine. Die bewegende Geschichte von Marta, Maria, dem sterbenden Lazarus und Jesus macht das beispielhaft deutlich: Der schwerkranke Lazarus muss sterben. Seine Schwestern kommen damit nicht allein zurecht. Es überfordert sie. Darum setzen sie alles Vertrauen in ihren Freund Jesus. Doch auch Jesus kann das Sterben seines Freundes Lazarus nicht aufhalten. Als er ankommt, ist sein Freund schon vier Tage tot und er trauert zusammen mit Marta und Maria. Doch durch das Beisammensein der drei Hinterbliebenen Marta, Maria und Jesus – nun ist es ja fast so wie im Trauercafé oder in einer Trauergruppe für Hinterbliebene! – da verändert sich m. E. etwas ganz Grundsätzliches: Es gibt ein Gespräch darüber, was nun mit dem verstorbenen Lazarus ist und auch darüber, was wohl gewesen wäre, wenn Jesus schon eher am Krankenbett dagewesen wäre. Ob er das Sterben seines Freundes hätte verhindern können. Marta glaubt, wie die meisten Juden zu ihrer Zeit, an eine Auferstehung aller Verstorbenen zum Gericht vor Gott am Ende aller Zeit, doch Jesus hat eine ganz andere Vorstellung von Auferstehung:

Im Namen Gottes spricht er wie ein Prophet „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt; und wer so lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben.“ Und diese Botschaft Jesu, dass wer ganz und gar auf Gott, der das Leben will, vertrauen kann, dieses gottgeschenkte Leben niemals wieder verlieren kann, selbst dann nicht, wenn er stirbt, wird nun den zweifelnden Mitmenschen Jesu zeichen- und beispielhaft vor Augen geführt: Er ruft Lazarus erneut ins Leben zurück. Und damit wird deutlich: Das sog. „ewige Leben“ ist nichts, was erst nach meinem Sterben beginnt. Wirklich von Gott erfülltes Leben beginnt bereits in meiner Gegenwart. Es ist längst schon da: Und ich spüre es am deutlichsten, wenn ich mich hingebe, wenn ich liebe! Die Liebe, das ist die Gegenwart Gottes. Und da ist es wie mit dem sog. „Energieerhaltungssatz“ in der Physik: Ein Verlust von Energie ist nicht möglich. Nichts geht verloren! Dinge können sich wohl ändern, verwandeln, umwandeln, aber von ihrer Kraft und Energie geht nichts verloren! Die lebensspendenden Kräfte, die uns anvertraut sind, die wir empfangen und mit anderen teilen, solange wir leben, die gehen auch dann nicht verloren, wenn wir gestorben sind: unsere Lebensenergie, Schöpferkraft, die Liebe, die wir empfangen, teilen und weiter schenken, bleibt erhalten. Sie wirkt weiter und kann neu empfangen und wieder gefunden werden! Und selbst wenn sich kein Mensch nach meinem Tod als „Energieträger“ mehr an mich erinnern kann, bleibt doch diese Lebenskraft in Gott, der in allem ist, aufgehoben: Und darum kann ich darauf vertrauen:

„Ich werde leben, auch dann, wenn ich sterbe!“ Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen

Zum Abschluß der 3. Helmstedter Hospiztage: Eine Predigt von Karl-Peter Schrapel