perikopen31„Was liest du da eigentlich am Sonntag immer vor?“ fragte mich neulich mein Sohn, als ich wieder einmal das Evangelium im Gottesdienst lesen durfte.

„Na das Evangelium, die frohe Botschaft,“ erwiderte ich, „wir lesen im Gottesdienst immer aus der Bibel, das gibt uns Kraft und regt uns zum Nachdenken an. Und Frau Rengel macht dann daraus einen Bestandteil ihrer Predigt.“

„Ja klar, aber suchst du die Stellen denn auch aus?“

„Nein, die sind vorgeschrieben. Wir haben ein dickes Buch, das Lektionar, und da steht für jeden Gottesdienst genau drin, was gelesen werden muss.“

„Und wer hat das Buch geschrieben? Und warum stehen da nur die paar Stellen drin?“

Und da hatte mein kluger Sohn mich erwischt, denn diese Frage konnte ich ihm nicht beantworten. Also belas ich mich und habe ich bisher dies herausgefunden:

Die Gottesdienste in den verschiedenen evangelischen Kirchen in Deutschland waren bis zum letzten Jahrhundert recht vielfältig in Gestaltung und Inhalt. Jede Landeskirche hatte ihren ganz eigenen Ablauf des Gottesdienstes, und reisende Gottesdienstbesucher hatten es schwer, sich zurechtzufinden. Es gab jedoch erst im letzten Jahrhundert erfolgreiche Bestrebungen, den Kirchen ein gemeinsames Dach zu geben, und so gründete sich 1922 der deutsche evangelische Kirchenbund, aus dem 1948 die Evangelische Kirche Deutschlands (EKD) hervorging, ein Zusammenschluss von heute 23 evangelischen Landeskirchen. Zum ersten Mal seit der Reformation entstanden in der Folge gemeinsame Gottesdienstordnungen und eine Vereinheitlichung der Lesungen und Gebete in ganz Deutschland.

Da es durchaus anstrengend sein könnte, würde aus der Bibel einfach hintereinander weg vorgelesen, wird eine Auswahl getroffen und es werden Ausschnitte, auf Griechisch Perikope, (vor-)gelesen. Diese sind in sechs Reihen eingeteilt, die sich über das Kirchenjahr erstrecken. Reihe I ist immer das Evangelium, der Leittext des Tages, dem die anderen Texte zugestellt wurden; Reihe II ist immer die Epistel.

Die Predigt soll sich jedes Jahr auf eine andere Reihe beziehen; so sind die Predigten im Kirchenjahr 2008-2009, das am 30.11. beginnt, der Reihe I zugeordnet, weshalb in den nächsten zwölf Monaten dem Predigttext jeweils das Evangelium zugrundegelegt wird, was ich selbst immer sehr schön finde.

Für den Gemeindebetrieb handlich zusammengefasst sind die Texte in einem Buch, das Lektionar genannt wird – das heißt auf Lateinisch ganz einfach Lesebuch. Und das ist es auch, ein Lesebuch, schön dick und schwer, genau wie ein Buch sein soll, in dem Gottes Wort aufgeschrieben ist, wenn auch nur in Ausschnitten.

Was ich also Sonntags vorlese, lieber Sohn, das sind Perikopen – und die machen mich manchmal nachdenklich und manchmal froh. Es gibt Sonntage, da verursachen sie in der Gemeinde eine absolute Stille, weil sie so gewaltig sind, und an einigen Tagen rufen sie Schmunzeln und unterdrücktes Lachen hervor. Jeden Sonntag aber treffen sie mich immer mitten ins Herz; sie sind gut ausgesucht, die Perikopen.

Peter Klaassen

Mein Sohn und die Perikopen